Interpellation von Landrätin Regula Waldner für die Ratssitzung vom 26. Januar 2023

Der Schweiz gehen die Lehrlinge aus. Diese Angst scheint berechtigt. Dazu kommt noch die Abbruchstatistik, wonach jede fünfte auszubildende Person in der Schweiz eine Auflösung des Lehrvertrags erlebt (in BL sind dies gemäss Lehraufsicht jährlich ca. 600, was gemäss der Antwort auf Rahel Bänzigers Interpellation 2017-320 über 10% aller aktiven Lehrverträge entspricht). Es heisst dann rasch: Die jungen Menschen seien zu verwöhnt und lassen sich lieber alles «von Mama bezahlen» (vgl. Tele Basel, 11.10.2022). Es ist die Rede von der «Qualität (!) der Schnupperlernenden», die nachgelassen habe und den Betrieben die Motivation nähme, sich für die betriebliche Ausbildung einzusetzen (Marc Scherrer, Haus der Wirtschaft, November 2022). Auch würden die weiterführenden Schulen potenzielle Lehrlinge abwerben und seien somit für den Lehrlingsmangel bzw. den Kollaps unseres dualen Bildungssystems mitverantwortlich. Kommt es dann doch zu Lehrvertragsabschlüssen, wird bald über zu schlechte schulische Leistungen der Lehrlinge gewettert. Es scheint, die Lehrlinge würden auf ganzer Strecke nicht genügen und trügen alleinig die Schuld an der Misere im Lehrlingswesen. Aber diese Sichtweise greift viel zu kurz.

Interessanterweise steigen von den erwähnten Abbrechenden wieder vier Fünftel in eine Lehre ein (Bundesamt für Statistik, 2021). Dies zeigt, dass seitens der Auszubildenden ein grosses Interesse besteht, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Dies führt zur Vermutung, dass der Lehrlingsmangel nicht monokausal unserem Schulsystem oder verhätschelnden Eltern geschuldet ist. Möglicherweise hängt er auch mit der fehlenden Unterstützung der Lernenden seitens des Lehrbetriebs bzw. mit einer zu wenig präsenten Lehraufsicht zusammen, was sich bei den Jungen schon vor der Berufswahl herumspricht. Hört man sich bei Lehrlingen um, kommen immer wieder unglaubliche Geschichten zu Tage:

  • Eine Lernende soll wegen ihrer Schwangerschaft vom Chef die Androhung erhalten haben, trotz bester Noten das letzte Lehrjahr wiederholen zu müssen.
  • Ein Lehrling leistete in einem Jahr über 300 unbezahlten Überstunden und wurde auch samstags zur Arbeit aufgeboten ohne jeglichen Zeitausgleich oder Geldentschädigung und entgegen den arbeitsrechtlichen Bestimmungen.
  • Einem Lernenden wurde mit einem Schild am Betriebstor vorgegaukelt, dass der Betrieb dem Berufsverband angehöre und dem Lernenden somit fünf Ferienwochen zustünden. Diese Mitgliedschaft stimmte aber gar nicht, und der Lehrmeister beharrte auf einer Kürzung der Ferien auf 4 Wochen.
  • Verschiedene Lehrlinge berichteten, dass ihr Lehrbetrieb ihre billige Arbeitskraft zwar nutze, im Gegenzug aber keine fördernde Ausbildung mit klaren Aufträgen und einem konkreten Arbeitsprogramm anböte (viele Leerzeiten).
  • In einem weiteren Fall reklamierte der Lehrmeister gar, dass der zur Ausbildung gehörende überbetriebliche Kurs (üK) unverschämt teuer sei und der Lehrling deswegen die üK-Zeit im Betrieb am Abend nach der Schule abarbeiten müsse.
  • In verschiedenen Branchen haben Lehrlinge festgestellt, dass die Anzahl der ausgelernten Fachkräfte unterhalb der Norm liegt und so auch keine qualitativ genügende Betreuung möglich ist.
  • Dass noch nicht Ausgelernte Fragen stellen, um Sicherheit beim Erlernen gewisser Arbeitsschritte zu erhalten, ist anscheinend nicht in jedem Betrieb erwünscht. Immer wieder sehen sich Lehrlinge von Betriebsmitarbeitenden zwecks Unterbindung dieser Fragerei blossgestellt („das ist eine dumme Frage“ o.Ä.). Dies ist als Mobbinghandlung zu werten.

Alle diese Lernenden erleben einen grossen Leidensdruck. Manche wissen zunächst gar nicht, dass sie unfair behandelt werden. Andere bemühen sich trotz grosser Angst vor Repressionen erfolglos um einen konstruktiven Dialog. Wieder andere schämen sich, ihren Ausbildungsberater beizuziehen, wenn der Chef oder die Chefin ihre Integrität als junge Erwachsene und ihre Rechte derart verletzt, dass sie die Freude an der Arbeit verlieren. Auch will nicht jede/r Lernende auf dem Weg ins Erwachsenenalter mit Mama oder Papa beim Lehrmeister auftauchen. Wer unter solchen Bedingungen die Lehre durchzieht, verdient eine gewisse Bewunderung.

Im Sinne einer Auslegeordnung und fundierten Klärung des Sachverhalts bitte ich den Regierungsrat, folgende Fragen zu beantworten:

  1. Statistische Präzisierung:
    1.1. Wie viele Lernende im Kanton BL haben durchschnittlich in den vergangenen 5 Jahren die Lehrstelle gewechselt (gleiche Art der Lehre mit Wechsel in einen andere Lehrbetrieb oder überhaupt Wechsel in eine andere Lehre)?
    1.2. Sind die Gründe des Wechsels bekannt? Wenn ja, werden sie systematisch dokumentiert?
    1.3. Sind gewisse Ausbildungsbereiche bzw. Lehrbetriebe auffällig geworden bzgl. Lehrstellenwechsel oder gar Lehrabbruch?
    1.4. Wie haben sich die Lehrvertragsauflösungen nach BFS-Code seit 2017 entwickelt? 
  2. Die Lehraufsicht BL versteht sich laut eigenen Aussagen in letzter Zeit weniger als Kontrollorgan und dafür mehr als Beraterin der Bildungspartner (https://themenwelten.bzbasel.ch/lehraufsicht-dienstleistung-in-der-berufsbildung-116434):
    2.1. Ist die Lehraufsicht in jedem Fall über die Gründe der Dissonanzen zwischen Lehrling und Chef/in informiert bzw. wie sicher kann sie sein, dass sie schwierige Situationen bei einzelnen Lehrbetrieben mitbekommt? Geschätzte Dunkelzifferrate?
    2.2. Wie unterscheidet sie Bagatellfälle von jenen, die als gravierend eingestuft werden müssen?
    2.3. Was gilt als gravierend?
    2.4. Falls gravierende Unstimmigkeiten mit dem Lehrbetrieb vermutet werden: Hat die Lehraufsicht die Kapazität, diesen nachzugehen? Welche Möglichkeiten hat sie, um – abgesehen von Vermittlungsgesprächen – für den Lernenden eine Verbesserung des Verhältnisses mit dem Lehrbetrieb zu erzielen?
    2.5. Gibt es Koinzidenzen, z.B. dass gewisse Branchen anfälliger sind auf schwierige Lehrmeister/Lehrlings-Verhältnisse? Gibt es branchenunabhängig Fälle/Situationen (welche?), in denen Verletzungen der Lehrlingsrechte gehäuft auftreten?
    2.6. In wie vielen und welchen Fällen konnte dank der Lehraufsicht eine nachhaltige Verbesserung der allgemeinen Lehrlingsbetreuung bei einem Betrieb mit wiederholten konfliktreichen Lehrlingsbeziehungen erzielt werden? Wie sah diese Verbesserung aus?
    2.7. Zeigen sich gewisse Muster, die einer übergeordneten Lösung – z.B. mehr arbeitsrechtliche Beratung der Betriebe, engmaschigere Kontrolle, anonyme „Klagemauer“ usw. – bedürfen?
  3. Welche Optimierungen sieht der Regierungsrat, damit Betriebe mit regelwidrigem Umgang gegenüber den Auszubildenden sanktioniert, von der Ausbildung ausgeschlossen oder zu einem für die Lernenden motivierendem Verhalten bewegt werden können?